Die eigentliche Revolution

Die eigentliche Revolution

Die eigentliche Revolution

In einer wilden Welt ist das Anhalten die eigentliche Revolution. Es braucht Ignoranz, eine erwachsen gewordene Lust auf Leben oder Müdigkeit, um anzuhalten inmitten des Getöses. Das erste Mal, dass ich jemanden habe anhalten sehen, war meine Oma in ihrer Küche. Ich habe keine Ahnung, wie alt ich war. Ich erinnere mich nur an den schmalen flurähnlichen Raum, der ihre Küche war und sehe sie vor dem Fenster stehen und in das Grau hinausschauen. Vorher waren noch kleine Speckwürfel geschnitten worden, ich bekam immer 1-2 angeboten. Salz in eckiger Form, heute würde ich dankend ablehnen, doch damals war mein Horizont ein anderer. Es war ein Ritual. Sie schnitt, ich naschte. Wenn wir anhalten, bleibt alles kurz stehen. Es ist eine Revolution in unserem Ablauf, eine Möglichkeit neu zu wählen. Wir sind schon ausgestiegen aus dem Automatismus, eine Lücke entsteht.

Tempomat

Jeder scheint einen eigenen Tempomat zu haben. Ein Tempo, dass wir unbewusst suchen im Leben, es manchmal bejammern oder uns erklären. „Ich kann nicht anders“ sagen wir und ein Teil von uns ist stolz auf die äußerlich sichtbare Betriebsamkeit. Statt an den Rosen zu riechen, schneiden wir sie, um gleich zum nächsten wichtigen Ding aufzubrechen. Meist ist nichts wirklich wichtig. Als die Sehnsucht nach Langsamkeit in mein Leben zog, war ich schone eine ganze Zeit außer Atem. Ich wusste vom schönen Leben, doch es schien immer einen Schritt weit weg, gleich um die Ecke, wenn ich doch nur -. Ich rannte zum Spaß und zum Sport und zu Terminen, immer 12 Minuten zu spät dran, wenn es gut lief. Was in uns hetzt uns und was lässt uns anhalten?

Aprikosen essen

In Deborah Levys „Things I don’t want to know“ wird eine Aprikose gegessen und ich musste darüber nachdenken, wie schnell die kurzen Momente des Genusses verdrängt werden durch irgendeinen Gedanken, der sich ungefragt vor das Erleben schiebt. Wie ein rempelnder Fahrgast in einer Schlange vor dem Zug, wenn alles voll ist und die Anzeige die Gültigkeit der Reservierungen außer Kraft setzt. Gedanken und Bewertungen klauen die Süße der Aprikosen. Damals vor dem Fenster sah meine Oma jedoch traurig aus. Es geht also nicht immer ums Genießen, wenn wir anhalten. Dennoch, da bin ich sicher, sollten wir es alle üben. Es ist eine Kunst, die den meisten Mut braucht. Langsamer werden ist eine Revolution im eigenen Leben und in dem der anderen.

Aktion oder Reaktion

Wer sagt uns, dass wir gut genug sind, wenn wir weniger schaffen, weniger beweisen, weniger erreichen oder gar weniger anstreben? Können wir entscheiden, jetzt angekommen zu sein, anstatt uns irgendwohin zu sehnen? Stress ist eine Form der Disharmonie und was, wenn unser Tempo die eigentliche Disharmonie ist? Wenn die Menge der einströmenden Reize unser System überfordert, so dass es sich krampfhaft festhalten muss am Gewohnten? Was, wenn unser gesamtes System, diese feine, blaue Welt nicht nur aufgrund der Krisen, sondern aufgrund unserer Hektik immer weniger menschlich wird? Als ich noch rannte, las ich in „Die neue Psychologie der Zeit“ von Studenten, die Hilfsbedürftigen nicht halfen, weil sie spät dran waren für einen Test. Hektik macht asozial, dachte ich damals und rannte weiter. Ob wir reagieren oder agieren, welchen Werten wir folgen, ob wir genießen oder abarbeiten – all das ist eine Temposache, oder?

Der Motor

Meine Oma raffte sich irgendwann zusammen, seufzte und schnitt weiter. Das Essen stand pünktlich auf dem Tisch. Ich vergaß die Szene, bis sie irgendwann nicht mehr da war. So viele Fragen habe ich nie gefragt. Woran denkst du? Bist du glücklich? Vermisst du Opa? Deine Tochter? Dabei war das Tempo meiner Kindheit langsamer als das meiner 20er oder 30er. Wie viel Menschlichkeit und Mitgefühl halten wir aus? Insbesondere, wenn wir unsere eigenen Gefühle in uns eingeschlossen haben wie kleine dustere Schätze? Unser Leben wird schneller, wenn wir etwas jagen oder vor etwas wegrennen. Bei den meisten von uns ist beides der Fall. Anhalten braucht den Mut zu fühlen, was da ist. Eine innere Furchtlosigkeit, wie der erste Sprung ins kalte Wasser nach einem langen Winter. Unser Motor läuft mit dem Benzin unserer Angst, Verdrängung, und Gewohnheit.

Anhalten üben

Also anhalten üben. Ich bin schon so lange dran. Yoga, Meditation, Klang, so viel Spielzeug für den gleichen Zweck. Momentan versuche ich tief zu atmen, wenn ich Alltagsdinge tue und kurze Pausen zu machen, um aus dem Fenster zu schauen. Was schwer ist, denn der Reiz, auf mein Handy zu schauen ist meist größer. Alles ist ein Verlernen, ein Entdecken-wollen der Auswege, die unser verrückt simpel gestrickter Kopf findet. Wieder und wieder uns gegen die industrialisierte, omnipräsente Form der Beschäftigung, Ablenkung und Betriebsamkeit zu lehnen ohne auszusteigen aus diesem Leben. Könne wir so langsam werden, dass das Leben Genuss wird? „In Zeit baden“ sagt mein Vater dazu. Ich übe derweil mit meinem Kopf nicht immer zwei Momente weiter zu sein. Es ist schwer. Pläne machen ist eine tolle Strategie, um ein Gefühl von Kontrolle zu erfinden. Die Revolution besteht im Anhalten, Hiersein im Moment, die Aprikose essen, wenn sie serviert wird, nichts zu erwarten, alles zu lieben. Wir alle wachen erst langsam auf zu dieser Dimension von Menschlichkeit. Wir üben.

Von Herzen,
Silja

PS: Mehr in meinem Buch „Willkommen auf dem Glücksplaneten“ und „Spiritual Leadership“ und hier und hier.

PPS:
Zitierte Bücher (Link zum Ecobookstore, non affiliate):
Deborah Levy „Things I dont want to know“
Zimbardo, Boyd „Eine neue Pscychologie der Zeit“

PPPS: Werbung: Wenn du mit mir anhalten üben willst: Bliss startet wieder im Juni 2024.
oder/ und  du übst mit mir anhalten mit Düften und ätherischen Ölen.

PPPPS: Das schöne Bild hat Miriam in Paris gemacht. Du findest ihre tolle Arbeit hier: www.liebaeugeln.com 

Hallo, ich bin Silja. Gründerin von Glücksplanet und Trainerin, Coach, Yogalehrerin, fröhliche Mama von drei Söhnen, glückliche Ehefrau, begeisterte Pflanzenesserin, beseelte Yogaübende. Mein Herz schlägt für Psychologie und Coaching, Yoga und gutes, gesundes Essen. Ich schreibe mit Leidenschaft über alles, was helfen kann ein glückliches, entspanntes und begeistertes Leben zu leben. Mehr findest du auf meiner "Über mich" Seite. Für tägliche Inspiration folge mir auf Facebook oder Instagram.

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