Vom Zauber der kurzen Tage
Der Baum ist weg und der Januar liegt vor uns. Wir haben ihn abgebaut und ein bisschen scheint mir das in jedem Jahr sinnbildlich für vergehende Zeit, Älterwerden, Lauf der Dinge und den Ausblick auf das, was kommt. Da liegt ein Zauber der kurzen Tage in diesen ersten Stunden des frischen Jahres. Die Helligkeit ist nur für Stunden da und es bleibt kaum Zeit für all die guten Vorsätze. Die Fitnessstudios sind voll und mindestens eine Challenge wartet hinter jeder Ecke. So viel zu tun und gleichzeitig ist Januar. Anfang. Dunkelheit. Ruhe. Noch immer ist jetzt die Zeit für Pause. Die Samen werden im dunklen gesetzt. (Hör hier hinein für mehr). Gerade erst ist die letzte Rauhnacht vorbei, die Königssinger waren da, ein Aufkleber als Beweis. Es fühlt sich an wie Ausatmen. Meine erwachsenen Söhne sind nach Hause gefahren. Ich frage mich, wie absurd groß und erwachsen sie sind. Wo ist die Zeit geblieben, denke ich, bevor ich sie wieder staunend betrachte. Soviel Liebe für diese Menschen und gleichzeitig ist unser Band ein anderes, jetzt wo sie älter sind. Eigene Leben, ich bin mehr Zaungast als Beteiligte. Manchmal kommt eine Träne und meist jedoch genieß ich es.
Der Zyklus des Baumes
Weihnachten wurde bei uns zu Hause gerne groß gefeiert und ich halte es treu mit dieser Tradition. Ich erinnere mich an Kindheitstage, in denen ich wartend vor der Milchglastür des elterlichen Wohnzimmers stand und sehnsüchtig auf das Klingeln des Glöckchens gewartet habe. Ein Augenblinzeln später bin ich zu Gast bei meinen Eltern, die Türklingel statt das Glöckchen bevor ich selbst begann das Fest auszurichten. Über die Jahre ist eine Routine da. Ich weiß, ich kann das. Anfangs war ich aufgeregter. Den Baum kaufen, schmücken und bestaunen. Essen wird zubereitet, Tische dekoriert, bevor wir gemeinsam feiern. Ich liebe diese Stunden, lerne langsam sie ohne Anspannung zu erleben, und dann ein Knall! – und alles ist vorbei. Der Baum wird abgeschmückt, was fast genauso viel Spaß macht, und aus dem Fenster geworfen (keine Angst, ich sperre den Bürgersteig kurz ab). Ein großer Wumms, Nadeln fliegen, das neue Jahr hat jetzt wirklich begonnen.
Vom sanften Zauber der Zyklen
Da ist ein Versprechen in diesen ersten Tagen nach Weihnachten, wenn die Wohnung um Schmuck bereinigt ist und alles wieder größer, klarer wirkt. Bald wird Frühling sein. Wir werden die ersten Schneeglöckchen betrachten, Magnolien bestaunen und bald schon Narzissen in ihrer kurzen Pracht alles in helles Gelb tunken lassen. Doch jetzt ist noch Zeit zu warten. Die Samen werden im Dunkeln gesetzt. Was will ich tun? Wer will ich sein? Die Fragen von Neubeginn mischen sich in meine sanfte Melancholie des späten Winters. Wann hat es begonnen, dass ich die Älteste am Tisch war? Bin ich schon in meinem Winter angekommen? Meine Kinder reden, machen Pläne und wir natürlich auch. Doch es ist eine andere Gewissheit darin: Ich weiß heute mehr als früher, wie endlich alles ist. Fast will ich festhalten, jeden Moment einatmen, doch gleichzeitig ahne ich: Erst das Loslassen macht die Magie.
Älterwerden
Elke Heidenreich, so wurde es heute morgen auf dem 72. Geburtstag meiner Stiefmutter zitiert, schreibt in ihrem neuen Buch „Altern“: „Alt werden will jeder, alt sein niemand.“ und ich frage mich, ob das stimmt? Sehnt man sich nach dem 80. Geburtstag wie nach dem 16.? Wohl nicht. Da ist eine Angst vor Verfall, eine Lust nach Jungsein. Doch nicht nur, oder? Ich spüre, wie ich lerne, die wachsende Freiheit zu genießen. Ich steure auf die 55 zu. Wenn ich Glück habe, kommen noch viele Jahre. Ich würde gerne fitte 111 wären. Das wäre eine feine Zahl. Ich habe Lust mich in mein Alter hineinzulieben. Mich zu feiern, dieses Leben auszukosten. Ich werde wohl nicht viel waghalsiger als heute, ich war schon immer ein wenig vorsichtig. Die Lust jedoch auf gute Tage, auf frohe Runden, auf Menschen und Kreation – all das bleibt, wächst, wird klarer. Ist es nicht so?
Das Ende der Kompromisse
Wenn wir in unserer zweiten Lebenshälfte nicht lernen uns zu lieben und zu ehren und zu tun, wonach uns der Sinn steht, wann dann? Älterwerden ist ein Privileg und wir können es nur auskosten, wenn wir uns freimachen vom Vergleich mit den Jüngeren. Jedes Alter hat seine Pracht. Ich erinnere mich an meine Unsicherheit mit 20, sogar mit 30. Alles hat seine Herausforderungen und seine Freuden. Wir wachsen zu jeder Zeit. Für das Alter gilt: Erst, wenn die konditionierte Verehrung der frischen Makellosigkeit abgelegt wird, können wir es ganz genießen. Das ist, so scheint mir, die finale Aufgabe: Lernen uns selbst zu lieben. Egal, wie wir aussehen. Egal, was wir können oder auch nicht. Es geht nicht mehr nur ums Begehrt-werden oder ums Gemocht/ Geliebt-werden. Auch nicht mehr so sehr ums Ergebnis. Der Prozess zählt, das wird klarer während die Stunden wertvoller werden. Das Urteil im Außen muss einfach beginnen uns weniger zu jucken. Wir müssen, dürfen, können unsere eigenen Fans werden. Lauthals. Leise. Egal.
Die Frauen um uns
Ich beginne andere zu betrachten, zu suchen, zu bewundern. Es gibt eine Lust auf Gemeinschaft, die in mir wächst. Da sind so viele tolle Frauen überall zu finden. Sie kutschieren ihre EnkelInnen, schwitzen neben mir beim Sport, sitzen im Wartezimmer oder am Schreibtisch. Sie haben Kinder großgezogen oder auch nicht und schauen auf die zweite Hälfte vom großen Spiel. Was, wenn wir uns gegenseitig mehr unterstützen? Wenn Frauenkreise, Kaffeeklatsche und all die anderen Möglichkeiten zusammen zu kommen, Orte der Bestätigung werden? „Wie schön du bist“ können wir sagen und die blitzenden Augen unserer Gegenüber bewundern. Wir können uns fragen, was unsere Träume sind und uns zuhören, gegenseitig inspirieren. Wir können uns Bücher empfehlen und gemeinsam lachen. Frauengemeinschaften scheinen mir möglicher, während wir die Konditionierung auf Konkurrenz ebenso hinter uns lassen. Da ist ein Band zwischen Frauen und ich fühle es mehr und mehr, je älter ich werde. Der Baum ist weg und wenn es gut läuft, gibt es nächstes Jahr einen neuen. Tage werden länger und wieder kürzer. Ich werde älter, du auch, wenn wir Glück haben. Es gibt etwas zu umarmen in uns, nicht außerhalb von uns.
Von Herzen,
Silja
PS: Dieser Blog ist heute 9 Jahre alt und ich freue mich sehr. Danke, dass du hier bist. Danke fürs Zeitnehmen und lesen. Lass hören, was du zu meinen Gedanken denkst. Ich freu mich darauf.
PPS: Fotos sind dieses Mal alle privat. Wenn du Lust hast mehr von mir zu hören, schau dir meinen Podcast „Radikal Glücklich“ und „Zurück zur Natur“ an. Viel Freude. Mehr findest du auch in meinen beiden Büchern und es macht mich sehr sehr sehr glücklich, wenn du sie dir kaufst. Überall im Buchhandel oder hier:
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